EIN TREFFEN DER GLORREICHEN SECHZEHN
20. Februar 2042, Therapiezentrum Schloss Winnenden
Es ist ungewöhnlich kalt, in diesen frühen Stunden an einem späten Februartag im Jahre 2042. Mit nur 12 Grad am Morgen liegt wieder ein Hauch von Winter über der schönen Parkanlage, die bereits vor Wochen vom Frühling wachgeküsst wurde. Am offenen Eingang des frisch renovierten Schlosses Winnenden bewegt sich eine Gestalt, die sich gerade eben mit einer knappen Geste von einer Person im Eingang verabschiedet hat mit zügigen Schritten auf einem Pfad durch den Park Richtung Ausgang. Erst bei näherem Hinsehen wird erkennbar, dass es sich um eine Frau im fortgeschrittenen Alter handelt. Die einst stattliche Frau ist nun eher von hagerer Gestalt, dafür trägt sie aber immer noch ihren pfiffigen Pagenschnitt, der sich nun durch seinen natürlichen Grauton durchaus positiv auf die Gesamterscheinung der Person auswirkt und ihr einen weitaus intellektuelleren Eindruck verleiht als in jüngeren Jahren. „So jetzt aber mal los“, denkt sie. „Wo, verdammte Axt, ist denn hier der Ausgang?“ Diesen Ort hier muss sie nach 15 Jahren schleunigst verlassen. Dabei kommt ihr wieder die letzte Therapiestunde mit Herrn Wilms in den Sinn. So ein Ärger aber auch. Warum musste sie sich bei ihm aber auch über das Thema Schulbildung auslassen. Im Eifer des Gefechts war es ihr herausgerutscht, das verbotene Wort „………unbedingt Präsenzunterricht ermöglichen“ hatte sie mit Nachdruck gerufen. . Naja verboten ist es ja nicht wirklich, aber keiner benutzt es heute mehr. Aktuell bestimmen Schlagwörter wie gesundes Lernen und anderer Schwachsinn die Schulpolitik. Herr Wilms stellte sich leider als falsche Person heraus, um solche Dinge zu diskutieren. Mit seinen 32 Jahren ist er ein Sprössling der verlorenen Generation. Ein Durchseuchungskind, wie Thea die mitte Dreißiger im Stillen nennt. Dumm an der ganzen Sache ist vor allem, dass er der neue Leiter des Therapiezentrums ist. Mit einem unbändigen Enthusiasmus widmet er sich den neuen Therapieformen der Coronabedingten Spätfolgen seiner Generation, unter denen auch er heute noch leiden muss. Ganz im Gegensatz zu Thea. Sie hat trotz ihres beachtlichen Alters diese Angelegenheit ganz gut überstanden. Dank ihrer gesunden Lebensweise, der Luftfilteranlagen, die zwar heute als veraltet gelten aber zur Hochzeit von Corona durchaus ihren Dienst geleistet haben und dank ihrer 15 Mitstreiter, die sich damals durch stets vernünftiges Agieren mittels Videokonferenzen zu schützen wussten. Heute liegt sie mit ihren 80 Jahren weit über der durchschnittlichen Lebenserwartung von 70 Jahren und erfreut sich bester Gesundheit. Warum sie überhaupt in dieser verfluchten psychiatrischen Anstalt gelandet ist, bleibt für sie ein Rätsel. Von Realitätsverlust und einem Leben in Parallelwelten war die Rede gewesen. Schwachsinn. Anfang 2030, als sich erste angebliche gesundheitliche Schäden in der Bevölkerung bemerkbar machten, wurde sie sogar so sehr angefeindet, dass sie eine Namensänderung in Theodora Flopper vornehmen musste. Und das alles nach all ihrer Bemühungen, Schulalltag in Coronazeiten zu ermöglichen. Der Schmerz darüber übermannt sie und treibt ihr die Tränen in die Augen. Schnell einen tiefen Griff in die Manteltasche. Ja, da war sie. Ihre fast noch unbenutzte Packung Taschentücher. Manchmal reicht schon ein Griff danach und sie fühlt sich wieder besser. Sie verlässt die Parkanlage durch ein großes Tor und hastet über den Gehweg zur nächstgelegenen Bushaltestelle, vorbei an einem weiträumig angelegten Dialysezentrum, dass inzwischen täglich mehr als 5oo Patienten am Tag mit einer Nierenwäsche bedienen kann. Ja, sie ist nicht mehr die Jüngste, ja man hat sie jahrelang ausgebremst aber nein! Ihre Mission hat sie nicht aus dem Auge verloren. Jetzt ist ihre Zeit gekommen. Ihr nächstes Etappenziel lautet Stuttgarter Hauptbahnhof. Und dann geht es erst richtig los. ……
Auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof herrscht emsiges Treiben bei einer Außentemperatur von inzwischen immerhin 15°. Thea schält sich aus ihrem Übergangsparka, überprüft nochmals den Inhalt ihrer Taschen auf Vollständigkeit, also Taschentücher, Notfallschlüssel für die Kölner Wohnung ihrer Freundin und Reisezertifikat in Form eines Chips, auf dem all ihre Daten (bis auf ihr Mädchenname) gespeichert sind, schultert ihren Rucksack und steuert zielstrebig Gleis 9 an. Den Bahnhof kennt sie inzwischen so gut wie ihre eigene Westentasche. Erste Bekanntschaft mit ihm hat sie zu Beginn ihrer Amtszeit in Baden-Württemberg gemacht. Damals herrschte hier noch ein heilloses Durcheinander und der Traum von Stuttgart 21 war noch nicht ausgeträumt. So musste sie jedes Wochenende diese Baustelle betreten, um mit dem Zug ihren Exmann im fernen München aufzusuchen. Dieses Schwein! Konnte auch nie den Hals genug bekommen und als ihre Karriere gegen die Wand gefahren wurde, hat er sie im Stich gelassen. Ähnlich wie ihre Ehe hatte sich auch das Bauvorhaben in Stuttgart 21 entwickelt. Nachdem die Vorkalkulation der Kosten sich im Jahr 2023 auf ganze 10 Milliarden Euro belief, wurde das Bauvorhaben kurzerhand gestoppt und in Plan B, also Endbahnhof 21 umgewandelt. Ein Unding, grummelt Thea, Ein ehemaliger Endbahnhof wird nach mehr als 10 Jahre langer Bauphase zu dem gemacht, was er schon war: ein Endbahnhof. Aber noch viel schlimmer als das ist die Tatsache, wofür später ähnlich horrende Summen in die Hand genommen wurden. Thea seufzt, will den Gedanken nicht zu Ende denken, tut es dann aber doch: Für Schulen, denkt sie angewidert und spuckt verächtlich auf den Bahnsteig. All die Mühen, all die guten Einsparkonzepte, die sie und ihre hochverehrten Mitstreiter in mühevoller Arbeit über Jahre hinweg entwickelt hatten, wurden mal eben so mir nichts, dir nichts über den Haufen geworfen. Die schönen Gesamtschulen mit ihren quirligen Klassen, die bis zu 30 Schüler fassen konnten, die zusammengelegten Grundschulen und wegrationalisierten Gebäude nach der der Auflösung der überflüssigen Hauptschulen mit ihren viel zu kleinen Klassen und die verkürzte Schulzeit auf den Gymnasien. Alles für die Tonne. An ihre erfolgreichen Einsparmaßnamen während der Pandemiehochzeit will sie gar nicht denken. Was sie in Ministerkonferenzen und öffentlichen Bekanntgebungen an Überzeugungsarbeit hat leisten müssen, was sie sich den Mund bezüglich Präsenzunterricht hatte fusselig reden müssen. Das ging auf keine Kuhhaut. Ja, auch sie hatte es nicht leicht gehabt, und ja, auch für sie war es psychisch gesehen eine sehr belastende Zeit gewesen. Wiederholt möchte sie in ihrer Manteltasche zu ihren Taschentüchern greifen, als ihr bewusst wird, dass sie sich ihres Mantels bereits entledigt hatte. 10 Uhr 10. pünktlich, wie erwartet, rollt ja schwebt nahezu lautlos der Schnellzug Stuttgart Köln in seine Position, um all die Reisenden am Gleis 9 einzusammeln. Wäre da nicht der Fahrtwind, der Theas Pagenschnitt sanft umweht, hätte sie ihn so ganz in Gedanken versunken gar nicht wahrgenommen. Thea lässt sich gleich in der ersten Sitzgruppensequenz nieder. Gottseidank kein altmodischer Großraumwagen. Zwar verfügen diese inzwischen auch über gute Luftfilteranlagen, aber der Technik in den neuen Wagons traut Thea weitaus mehr zu. In Reichweite von ihr sitzt eine etwas blässlich dreinblickende Mitdreißigerin, die angestrengt ihr Mobilphone fixiert. Ach ja. Schnell noch eine Wats App an Steffie schicken. Die Fahrt nach Köln dauerte 1 Stunde 35 Minute. Also wird sie gegen 11 Uhr vor der Haustür stehen.
Zur gleichen Zeit in einem Kölner Vorort am Rande einer Neubausiedlung herrscht im Haus Nr.16 in der Einwegstrasse emsige Betriebsamkeit. In einem ehemaligen Partykeller werden eifrig Tische verschoben und Stühle herbeigeschafft. Erstaunlich, wie effektiv die zarte, so ganz und gar nicht mehr junge Hausherrin diese durchaus schweißtreibende Arbeit verrichtet. „„Sooo…“ Sie reibt sich die Hände.“ Das wird ja.“ Zwei Stühle noch, dann haben 16 Leute bequem Platz. Abschließend dekoriert sie den Couchtisch in der Ecke, der von einer schicken Ledergarnitur eingerahmt wird, mit einem Sträußchen Nelken und lässt sich erschöpft in die Polster fallen. Endlich ist es so weit, sie wird sie heute alle wiedersehen. Zur Kontrolle wandert ihr Blick nochmals durchs Zimmer und bleibt an einer eingerahmten Photographie aus dem Jahr 2019 hängen. Es handelt sich um eine Gruppenaufnahme. Ein schönes, kraftvolles Bild, wie sie findet. Mit festentschlossenen Gesichtsausdrücken blicken sie und ihre 15 Mitstreiter in die Kamera. Wie jung sie damals noch waren. Wie jung und unerschrocken und voller Tatendrang. Thea war damals noch nicht im Team, dafür aber ihre Vorgängerin, die sich jetzt Frau Kruppstahl nennt. Eine starke Frau mit einem eisernen Willen. Sie kommt heute anstelle von Herrn To…, nein Dose, so nennt er sich heute...Aus gesundheitlichen Gründen musste er leider absagen. Ihr Blick wandert weiter. An einer Kork Wand hat sie ihre schönsten Erinnerungen an ihre Zeit als NRW Kultusministerin angeheftet. Ja, sie war schon immer sehr volksnah gewesen und selbst zur Coronahochzeit hatte sie es sich nicht nehmen lassen, sich zusammen mit den lieben Schulkindern ablichten zu lassen. Natürlich immer mit FFP2 Schutzmaske und anschließendem Hygieneritual zu Hause, dass sie sich nach jeder Risikobegegnung angewöhnt hatte: Eine gründliche Mundspülung mit Meridol, dann ein heißer Salbeitee und zum Abschluss eine zweite Spülung mit Meridol. Gestern Abend hatte sie noch eine besonders originelle Idee. Deshalb stand jetzt neben der Kork Wand eine alte Schultafel, die schon mindestens ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel haben dürfte. So eine, die noch mit Kreide beschrieben wurde. Damit wollte sie ihre lieben Mitstreiter überraschen. Die Zeichnungen auf der Tafel hatte sie noch gestern kurz vor Mitternacht angefertigt und mit Kärtchen versehen. Darauf standen die beiden Begriffe ‘Bremsscheibe‘ und ‘Hygienefilter‘. Ja, das ist sie sich selbst noch schuldig: Eine verständliche Erläuterung dieser Begrifflichkeiten. Denn diese überaus passenden und zur damaligen Hygienesituation an den Schulen fast schon poetischen Metapher hatten selbst ihre 15 Wegbegleiter nie so richtig verstanden. Ihr kam es in den damaligen Videokonferenzen jedenfalls so vor. Denn jedes Mal, wenn sie diese Begriffe erwähnte, hatte sie das Gefühl, dass ihre Mitstreiter ihre Gesichtszüge nicht mehr unter Kontrolle halten konnten. Vielleicht lag es aber auch an der unvorteilhaften Bildschirmkamera, die damals noch verwendet wurde. Insgesamt hatten sie zusammengehalten und das große Ganze nie aus den Augen verloren. Totaler Unterricht für immer und ewig in absoluter Präsenz. Eine wichtige und feste Größe in einer Welt, die so ganz und gar aus den Fugen geraten war. In dieser Sache waren sie sich stets einig gewesen. In der Umsetzung kam es allerdings zu Abweichungen. Und an dieser Stelle, und daran konnte sie nicht ganz ohne Stolz denken, stand sie an der einsamen Spitze. Die Krönung ihrer Arbeit: Ein ausgeklügelte Testsystem an den Grundschulen in Nordrhein Westphalen. Einzigartig und einmalig in ganz Deutschland, so lautete es derzeit in den lokalen Schlagzeilen. Sie kam nur hier in ihrem wundervollen Bundesland zur Anwendung. Eine Weile funktionierte es hervorragend. Die Lehrer, Eltern und Kinder hatten größtes Vertrauen gefasst und spielten das Spiel erstaunlich gut mit, aber dann…Bei diesem Gedanken schüttelte sie energisch ihr Haar und unterdrückte ein hysterisches Kichern. Ja, in die Hose gegangen, war es. So ganz und gar in die Hose gegangen, war es. Aber…war das IHRE SCHULD gewesen???? Holla! das hatte sie jetzt aber laut ausgerufen.
„Yvönnsche, Yvöööööön..sche…. drunger allet in Ordenung?“ Die Frau richtet sich erschrocken am Sofa auf. Herrgottnocheinmal, beschissene Haustechnik aber auch. Hier hatten sogar die Kellerwände Ohren. Ja, ja, sie kommt ja. Der Alte konnte aber auch eine Nervensäge sein. Klar, es hat ihn hart getroffen und er hat ja nur noch sie……“Bin gleich bei dir Schatz“, meldet sie sich und betätigt das Touch Pat der integrierten Wandsprechanlage. So. Jetzt gibt es eigentlich nur noch Eines zu tun: Das passende Outfit für den heutigen Tag auszuwählen. Dabei fällt ihr Blick auf ihre heißgeliebte Lederjacke, die sie immer noch liebevoll an einem Kleiderbügel am Garderobenhaken hängen hat und von der sie sich nicht hat trennen können. Zu viele schöne Erinnerungen hingen daran……“Yvönnsche… Yvöööönsche!“ tönt es wieder. Die Frau rafft sich vom Sofa auf und verlässt mit eiligen Schritten die Räumlichkeiten. Vielleicht findet sie oben im Schlafzimmerschrank noch eine passende Kostümjacke für den heutigen Tag.
Zeitgleich im Süden von Deutschland fährt in einem Stadtteil von München das neueste Modell eines Daimlers vom Typ 8B über einen holprigen Kiesweg und hält kurz darauf vor dem Eingang eines herrschaftlichen Anwesens: „Seniorenzentrum Harlaching“. Die moderne Anzeigetafel über dem Eingang hebt sich kontrastreich vom Jugendstilgebäude ab. Ein älterer Herr in leicht gebeugter Haltung verlässt zusammen mit einer jüngeren Dame in einer Pflegeuniform Arm in Arm das Gebäude. Beim Treppenaufgang lässt er sich etwas unwillig auf die Unterstützung seiner Begleitung ein, steuert dann aber recht zügig und eigenständig auf das bereitstehende Fahrzeug zu. Sobald der ältere Herr seinen Platz im Auto eingenommen und die junge Dame ihm noch schnell das Lunchpaket zugeschoben hat, schließt sich die Autotür und der Wagen setzt sich in Bewegung. “Dieser alte Sturkopf“, schimpft die Pflegekraft.“ Als ob er nicht das Rollband neben der Treppe benützen könnte. Aber nein, dafür sind wir uns ja zu fein…lieber jedes Mal über die Treppenstufen stolpern, bis die Haxen gebrochen sind“. Kopfschüttelnd verschwindet sie im Gebäudeinneren.
Dr. Prof Platzo, wie er sich jetzt nennt, dreht seinen Sitz gegen Fahrtrichtung, klappt den kleinen integrierten Arbeitstisch auf und öffnet sein Notebook. Zuvor hat er die Lunchbox mit einer schwungvollen Handbewegung in den hinteren Teil des Wagens befördert. Furchtbarer Fraß, denkt er. Hoffentlich hat Yvönnchen was Vernünftiges vorbereitet. Ja, Ja, das Yvönnchen... Sie nennt sich jetzt Susan, aber für ihn bleibt sie immer sein Yvönnchen… Das war schon ein Ding, damals vor 20 Jahren. Er schmunzelt. ‚Hygienefilter‘… Also nee. Auf so eine Idee konnte aber auch nur ein Frauenzimmer kommen, dazu noch eins ohne Hochschulabschluss. Als ob eine vorhandene Kontamination mit Viren nachträglich herausgefiltert werden konnte. Blödsinn und technisch gesehen unmöglich. Da war seine Wortkreation weit aus sachlicher und technisch orientierter gewesen. Ursprünglich wollte er mit dem Begriff ‚Hochsicherheitszaun‘ an die Öffentlichkeit treten. Aber davon hatten ihm seine engsten Berater dringend abgeraten. Das klang angeblich zu militärisch. Schließlich hatten sie sich für „ein engmaschiges Sicherheitsnetz“ entschieden. Natürlich auch nur eine Worthülse, aber ausreichend genug, um die besorgten Bürger zu beruhigen und den Schulbetrieb am Laufen zu halten…und darauf kam es schließlich an, dafür war er Politiker aus Leidenschaft geworden. Soo... Dann wolln wir mal. Sein Notebook ist inzwischen betriebsbereit und er scrollt über seine Datenbank. Schaun wir mal…Hier waren all seine Verdienste während seiner Ministerzeit aufgelistet. Er wollte aber anlässlich des bevorstehenden Treffens auf die Einträge, die so ziemlich genau vor 20 Jahren entstanden waren. Aha, da haben wir ja was. Er berührt den Touch screen und ein Video auf der noch erhaltenen Seite des Kultusministeriums wird hochgeladen: Seine Ansprache an die Schüler um die Weihnachtszeit 2021. Heijeijei, wie schnittig, sein Auftritt. Die Beiträge der Schüler dagegen steif und holprig. Ja Herrschaftszeiten! Denen musste man auch jedes Wort aus der Nase ziehen. Was sie sich nach Corona am meisten wünschen, war das denn so schwierig? Gut, ok, Corona war auch heute nicht ganz vorbei, aber mal so ein bisschen positive Perspektive bieten und die Fantasie der Schüler anregen konnte ja zu diesem Zeitpunkt nicht so verkehrt sein. Ein Schüler einer Gesamtschule, vermutlich 7 Klasse, antwortete allerdings recht pfiffig: Seine Oma und seinen Opa würde er gerne mal wieder treffen. Und da hatte es beim Professor Klick gemacht. Ab genau diesem Zeitpunkt hatte er die ganzen Faxen von wegen Sicherheitsnetze und das ganze übrige Pipapo so richtig satt. Corona, hin oder her, Oma hin oder her, Gesundheit hin oder her, und dieses ganze Tütü um den Infektionsschutz an Schulen…. drauf geschissen. Das Leben musste wieder normal werden. Das war DER Wendepunkt in seinem Handeln gewesen. Und ja, so kam es dann auch…zumindest in den Schulen. Später dann auch, dank Omikron, in anderen Bereichen. Und noch später…. daran möchte er jetzt lieber nicht denken. Die bisher gleichmäßige Autofahrt wird plötzlich durch eine ruckartige Bewegung unterbrochen, um wenige Sekunden darauf wieder in eine gleichmäßige Fahrt überzugehen. „Ja Himmel, Herrgott Sakrament nochmal, immer diese rückständigen, dämlichen Lenkradfetischisten. Wozu wurden denn autonome Fahrzeuge entwickelt? Du Rindvich, du blödes“. Der ehemalige Professor formt mit der rechten Hand eine Beleidigung, die aber durch die getönte Scheibe vom betreffenden Fahrer auf der Überholspur nicht eingesehen werden kann. Als er kurz nach dieser Entgleisung wieder auf sein Notebook blickt, grinst ihn eine übermotivierte Kasperlmarionette an und legt auch schon los. Mit etwas zu schriller Stimme erläutert sie im bayrischem Dialekt die Anwendung von Schülertests: „Servus, griaßt Euch ihr liebe Buabele und Madele, natürlich ned in da Suppnküche oda in da Weihnochdsbäckerei….……..“ Oh nein, bitte nicht der Scheiß! Energisch klappt der Professor sein Notebook zu. Das war einer seiner größten Fehler im Leben gewesen. Aus diesem Grunde war seine liebe Martha in einer Nacht und Nebel Situation gegangen und ihn als ewigen Junggesellen zurückgelassen. „Du narrischer Depp, Du. „Hatte sie noch gerufen. „I braach oan maa, koa gloakind. Schbil doch mid deine doofa Marionedn“ Dabei war es nicht mal seine Idee gewesen. Aber sowas hängt einem ein Leben lang nach... Gleichmäßig gleitet sein Mercedes durch den frühen Morgen, vorbei an Feldern über denen noch die letzten Nebelschleier liegen. Inzwischen hat er Ingolstadt schon hinter sich gelassen. Aber die Fahrt zieht sich und die Landschaft kann er trotz der mäßigen Geschwindigkeit von 210 Km pro h nur verschwommen wahrnehmen. Noch ganz in Gedanken an Martha versunken verfällt er in eine träge Müdigkeit, schließt die Augen und träumt… von ..der Vergangenheit…..…erst das aufdringliche Summen seiner Navigation lässt ihn auf blinzeln. Die Zeitleiste am Navi steht auf 11 Uhr 55. „In 5 min erreichen sie ihr Zielort. Einwegstrasse 16, Rodenkirchen“, tönt es aus dem Lautsprecher….
Etwa 300 km nördlich der Route des Professors nähert sich ein Gefährt ganz anderer Art der ehemals innerdeutschen Grenze bei Eisenach: Ein bunt bemalter VW- Oldtimer tuckert mit einer Geschwindigkeit von 120 Km/h auf einer Landstraße entlang einer Eisenbahnlinie. Im Fahrzeuginneren befinden sich fünf Personen. Eine rothaarige Frau in geblümter Latzhose lenkt das Fahrzeug und hebt sich erfrischend farbenfroh von den übrigen Erscheinungen im Auto ab. Sie und ihre ebenfalls rothaarige Beifahrerin scheinen bester Stimmung zu sein, denn beide singen trotz vorangeschrittenen Alters mit durchaus klangvollen Stimmen eine alte Melodie. Eine, die alle Mitreisenden aus einer Netflix Serie noch aus Lockdownzeiten vor 20 Jahren kennen: In Berlin, in Berlin, la-ast diee bö-sen Män-ner ziehn… Im rückwärtigen Teil des VWs sitzt ein graubärtiger Mann zwei betagten Frauen gegenüber. Der Mann reibt sich sichtlich genervt über den kahlen Schädel. Seine schlechte Laune trägt er unverhohlen zum Ausdruck. Nachdem er sich schon zum wiederholten Mal die markante schwarze Brille auf dem Nasenflügel zurechtgerückt hat, starrt er mit ausdruckslosem Blick aus dem Seitenfenster. Ein Riesenfehler, das hier war ein R i e s e n f e h l e r. Wie konnte er nur so blöd sein und auf seine alten Tage mit diesen vier Weibsbildern durch die Landschaft gurken. Das Team Ossi muss doch zusammenhalten, hatte ihn die durchgeknallte Astrid neckisch geködert. Ja, jetzt hat er den Salat. Seine beiden Reisebegleiterinnen Britta und Simone haben inzwischen auch schon die Lust an Konversation verloren. Britta….. Schnalz..,,Britta Schnulz.. Ach herrje, warum fällt ihm jetzt der Name nicht mehr ein? Dabei war doch ihr werter Mann sogar kurzzeitig Bundeskanzler gewesen. …Schnolz, jetzt hat er‘s wieder... Ja sie hier im Osten hatten großes Glück gehabt. Im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen hatten sie nach dem Abschwellen der Pandemie keine Namensänderung vornehmen müssen. So groß waren dann die Anfeindungen aus der Bevölkerung doch nicht gewesen. Im Gegenteil. In den Folgejahren hatte er sich in manch einer Talkshow sogar rechtfertigen müssen, warum er während der Coronahochzeit überhaupt Maßnahmen an den Schulen ergriffen hatte. Wie hatte es eine Gesprächsgegnerin in einer hitzigen Podiumsdiskussion so schön formuliert? „Mein lieber Herr Pillow, oder wie sie auch heißen. Woher, bitte schön, wollen sie denn so genau wissen, ob diese ganzen gesundheitlichen Folgeerkrankungen innerhalb der Bevölkerung nicht durch das Tragen von Masken ausgelöst wurden? Hier ist immer die Rede von Corona Spätfolgen. Aber ich sag ihnen das jetzt mal ganz offen ins Gesicht. Hätte man den Kindern keinen Maulkorb verpasst, hätten wir es jetzt mit gesunden Menschen zu tun! Und später, beim Verlassen des Studios war sie dann noch mal ausfällig geworden: „ Un wirklich jezza ma, ohne ihre ganze bleede fissemadenzchen hädds so ä was nisch gegähm, sie Deesbaddl. “ Tja, dass hatte im schon zugesetzt. Was die Gute allerdings nicht hat wissen können, und das war sein kleines gutgehütetes Geheimnis, auch er hatte Parole geboten. Auch er war damals auf die Straße gegangen. Natürlich inkognito, mit Baseballkappe und Sonnenbrille getarnt. Man, war das krass gewesen, diese Spaziergänge durch Dresden. Er hat es so richtig gefühlt, das Miteinander, die Community, die Bereitschaft, gemeinsam stark zu sein, für die Freiheit zu kämpfen. Mit Plakaten wie ‘Stoppt die Corona Diktatur‘ waren sie gemeinsam durch die Altstadt gezogen. ‘Leben statt Lockdown‘ hatten sie skandiert. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte ihm allerdings jemand von hinten auf die Schulter getippt. „Kennen wir uns nicht?“ Als er sich umgedreht hatte war eine junge Version von der Frau, die heute am Steuer sitzt, vor ihm gestanden. „Entschuldigen sie, sie müssen mich mit jemanden verwechseln“, hatte er geantwortet und war in der Menge verschwunden. Ja, das stand noch bis heute unausgesprochen zwischen ihm und Astrid. Kurz nach dieser Begegnung war sie, die ehemalige Grundschullehrerin zur Kultusministerin von Berlin ernannt worden. Er richtet seinen Blick nach vorne auf die beiden Frauen, die sich inzwischen angeregt unterhalten. „Astrid,“ ruft er „könntest du bitte kurz stoppen? Ich müsste mal austreten. “ Daraufhin reißt die Fahrerin so unvermittelt das Lenkrad nach rechts, dass alle übrigen Insassen erschrocken nach einem Halt im Fahrzeug greifen, und biegt in einen Waldweg ab. Die Fahrertür wird aufgerissen und die Frau in Latzhose verschwindet hastig im Wald. Der bärtige Mann, ausgebildeter Jurist und späterer Kulturminister von Sachsen, hat seine Blase besser unter Kontrolle. Ganz ohne Eile windet er sich durch die Schiebetür des VWs und steuert in entgegengesetzter Richtung auf eine große Eiche zu. Nach dem Wasserlassen greift er in die Hosentasche und befördert mit spitzen Fingern ein nagelneues Mobile Phone ans Tageslicht. „Wir sind auf der Landstraße unterwegs“-schreibt er in einer Nachricht an einen ehemals sehr geschätzten Kollegen- „könnte länger dauern. Werde, falls ich die Fahrt überleben sollte, nicht vor 12.30 am Ziel sein. l.G Jörg.“
Am gleichen Morgen erwacht auch die hohe Straße, eine Einkaufsmeile in der Innenstadt von Köln, allmählich zum Leben. Während sich in einigen Läden zunächst nur die Rollläden der Schaufenster langsam nach oben bewegen, werden woanders schon die Verkaufsständer für Karten und andere Souvenirs vor die Eingänge gerollt. Vor dem Bäcker hat sich bereits eine lange Schlange von Wartenden gebildet. Auch auf den beheizten Terrassen der Cafés sitzen vereinzelt schon Gäste. Einige starten mit einem Tässchen Café, andere dagegen mit einem ausgiebigen Frühstück in den Tag. Das renommierte Café Reichard in unmittelbarer Nähe zum Dom ist an diesem Morgen nur spärlich besucht. Seitlichen am Rand der beheizten Terrasse versucht ein betagter Herr mit Hut und Anzug seine im Wind flatternde Kölner Tageszeitung unter Kontrolle zu bringen. Dabei fokussiert er seinen Blick durch die schwarz umrandete Brille auf eine dickgedruckte Schlagzeile: “Diabetik- eine Volkskrankheit auf dem Vormarsch,“ heißt es da. Der Mann vertieft sich in den Artikel. Dort steht geschrieben: „In den vergangenen Jahren wurde ein beunruhigender Anstieg an Diabetikern festgestellt. Demnach ist weltweit jeder dritte Erwachsene inzwischen betroffen - das sind fast 2,9 Milliarden Menschen weltweit. Besonders auffällig zeigt sich der Anstieg in der Altersgruppe zwischen 25 und 35 Jahren. Aktuelle Studien legen nahe, dass zweidrittel dieser Erkrankung in einem direkten Zusammenhang mit einer durchgemachten Corona-Infektion in jungen Jahren stehen…. Energisch faltet der Mann die Zeitung wieder zusammen und beschwert sie mit einem Aschenbecher: „Schwachsinn! Studie! Was heißt hier schon Studie! Jeder Depp kann doch so eine Studie durchführen und den ganzen Mist dann reißerisch in absoluten Zahlen präsentieren. 2,9 Milliarden! Hört sich ja gleich viel dramatischer an …. Sollen halt nicht so viel Süßes fressen, die jungen Leute heutzutage. Wo gibt’s denn dazu bitte schön eine Studie…?“ Der Mann blickt verärgert auf sein Mobil Phone. Eine neue Nachricht wird angezeigt. Plötzlich hellt sich sein Gesicht auf. Amüsiert beginnt er zu lesen. Beim ersten Satz versucht er noch sich das Lachen zu verkneifen, beim zweiten dagegen bricht er in schallendes Gelächter aus. „Dieser Trottel“, prustet er, „Lieber mit dem Fahrrad als mit so einer Fahrgemeinschaft anreisen. Ich hab’s ihm ja gleich gesagt. Die Astrid ist nicht mehr ganz frisch hinterm Pony. In dem Moment, in dem er sich an die Stirn tippt, registriert er eine Bewegung neben sich: „Geehrter Herr, hier ihre Bestellung,“ zwitschert eine junge Bedienung und verschwindet auch schon wieder eilig. Was ist denn das? Er betrachtet bekümmert seine Scheibe Brot mit Käse und Zwiebelringe. Halver Hahn, hatte Yvonne ihm geraten, bestell dir nen halven Hahn. Das ist lokal und typisch Kölsch. Herrje, war doch ein Fehler gewesen, ein Tag früher anzureisen. Was würde er jetzt für einen saftigen Bulletten Hamburger in seinem Lieblingscafé an der Elbe in Bergedorf geben. Stattdessen sitzt er hier in diesem heruntergekommenen überteuerten Café, dass seine besten Tage schon hinter sich hat und muss sich über ein Brot mit Käse und über die hiesigen Toiletten ärgern. Kann ja sein, dass es vor zwanzig Jahren mal ein riesen Hype war, die durchsichtigen Scheißhaustüren, die sich beim Verschließen tönen. Heute ist es in Kombination mit den veralteten Armaturen einfach nur erbärmlich. Wenn er jetzt zuhause in Hamburg wäre, könnte er nach dem Frühstück wenigstens noch einen kleinen Abstecher in sein ehemaliges Dienstbüro in Hamburg Bamberg unternehmen. Einmal unerkannt mit dem verspiegelten Fahrstuhl in den 16 Stock emporsteigen und von dort oben, mit dem Blick auf sein geliebtes Hamburg, den Spirit von damals spüren. Jetzt muss er eben mit dem vergilbten Zeitungsausschnitt in seinem Portemonnaie vorliebnehmen. Dort hatten sie 2019 über seine Persönlichkeit folgendes geschrieben: …flink im Denken, analytisch rhetorisch präzise, ausgestattet mit einer unverblümten Durchsetzungskraft…Yes, that´s him. Bei seiner bekräftigenden Ellenbogenbewegung, die er dazu ausführt, verrutscht ihm leicht sein Hut. Er verstaut das Stück Papier wieder in seinem Portemonnaie und rückt seine Kopfbedeckung zurecht. Wie hatten es ihm seine Eltern so schön mit auf den Weg gegeben: …Gib dir Müh, du schaffst das…. Und das hatte er. Bis ganz oben an die Spitze zum amtierenden Kultusminister von Hamburg hatte er es geschafft. Gestartet mit einem Einser Abitur, gefolgt von einem Einser Staatsexamen und so richtig durchgestartet nachdem ihn der künftige Bundeskanzler… Schmidt, nee….Schneider….Quatsch….Schnulz, jetzt hat er‘s …als Herr Schnulz ihn auf dem Gang angesprochen hatte: „Könnten sie es sich vorstellen…….“ Aber ja. Ja natürlich konnte er sich das vorstellen. Einer wie er, der sich Mühe gibt, schafft das auch. Es war nicht immer einfach gewesen. Schon gar nicht zu Corona Hoch-Zeiten. Absoluten Präsenzunterricht zu predigen und gleichzeitig beim Volke die Illusion von sicheren Schulen aufrecht zu erhalten. Manchmal war Kreativität gefragt und dann kam es schon mal vor, dass brisante Papiere über Studien verschwinden und durch neue ersetzt werden mussten. Das war ethisch gesehen für ihn als ehemaliger Religionslehrer nicht immer leicht gewesen. Aber für die übergeordneten Sache unumgänglich. Es war schon rührend gewesen, wie ihm die Eltern auch bei hohen Infektionszahlen vertrauten. Jedes Mal, wenn er morgens um kurz nach halb acht den Blick aus seinem Büro im 16 Stock warf, konnte er nicht ohne Stolz die Scharen von Schülern beobachten, wie sie aus den Bussen strömten und sich trotz hoher Inzidenz und kalter Witterung auf den Weg zur Schule machten. Es war ein gutes Gefühl gewesen, diesen Kindern einen Ort des Lernens, einen sicheren Hafen in stürmischen Zeiten, ja einen unter Pandemiebedingungen fast schon verwunschenen Ort der Geselligkeit und des sozialen Miteinanders zu schaffen. Zwar teilweise mit Maske und einer frischen Nordseebrise, die ab und an durch die geöffneten Fenster wehte, aber wie heißt es so schön: Was einen nicht umbringt, stärkt einen. Später, als er sein Amt hat niederlegen müssen, kamen dann die Klagen. Erst von den Eltern, dann von den inzwischen erwachsengewordenen Kindern. Wegen all der Zipperlein, die die Bevölkerung meinte, an sich feststellen zu können. Als ob nicht alle damals einverstanden gewesen wären. Er musste nicht nur sein Amt, sondern auch seinen ehrwürdigen Familiennamen abgeben. Seitdem geht er unter dem bescheuerten Nachnamen Herr Specht durchs Leben. Missmutig winkt er die Bedienung herbei: „Fräulein, bitte zahlen, ich hab meine Zeit nicht in der Lotterie gewonnen.“
20 Jahre zuvor in eine im Vorort von Karlsruhe.
Die Dunkelheit liegt an diesem frühen Februartag noch über der Stadt, als in einem kleinen Doppelhaus in einem ruhigen Vorort von Karlsruhe nacheinander, wie an jedem Morgen um 6.00 Uhr, die Innenräume mit Licht erfüllt werden. Die gewohnte Rheinfolge wird auch an diesem Morgen eingehalten: Zunächst das Schlafzimmer, gefolgt vom angrenzenden Kinderzimmer, dann das ausgebaute Dachgeschoss. Den Abschluss bildet die Toilette im Obergeschoss. Wenige Minuten darauf erhellt sich dann auch das Erdgeschoss, zunächst zur Straßenseite, dann nachdem sich ein Rollladen lärmend nach oben bewegt hat, auch zur Gartenseite. Kurze Zeit später verlassen ein stabil gebauter Mann mit Glatze und ein ungeduldiger Hund an einer Leine auf dem Gartenweg das Haus. Als die beiden wieder mit einer vollen Bäckertüte zurückkehren, sitzen auch die übrigen Familienmitglieder mehr oder weniger aufgeweckt am Esstisch. Den frischesten Eindruck macht heute der Jüngste am Tisch: „Mama, wie siehts aus mit meinem Geburtstag? Wann und wo steigt die Party?“ Dabei steht er vom Stuhl auf und gibt eine kleine Twerk-Einlage zum Besten, gefolgt von einem erwartungsvollen Blick über die Schulter. Die Mutter schluckt. Ja eine Party soll dieses Jahr stattfinden, nicht ganz so bescheiden wie letztes Jahr, aber wenn es nach ihr geht, auch nicht ganz so ausladend wie vor 3 Jahren. Auf die Frage, wen er gerne einladen möchte, wird auch schon direkt eine Liste gezückt. Sie ist lang wie immer, allerdings sind diesmal die Namen mit diversen Zeichen versehen. Ein Galgen Männchen für Corona-krank, ein rotes Apothekenkreuz für normal- Krank und ein vergittertes Fenster für Quarantäne. „Na dann seid ihr halt zu viert, kann doch auch mal nett sein, so in kleiner gemütlicher Runde“. Ihr Sohn scheint davon nicht ganz so überzeugt zu sein: „Johannes müsstest du dann aber abholen“ antwortet er patzig. „Warum?“ fragt sie der Vollständigkeit halber. Der frisch gebackene Teenager druckst herum, sichtlich bemüht, das Richtige zu sagen:“ Naja, seine Eltern und seine Schwester die haben da so einen PCR Test gemacht…tja….und deshalb kann er nicht gefahren werden.“ Die Mutter zögert, verkneift sich aber eine Antwort und klatscht stattdessen in die Hände. „Auf jetzt, zackig, Zähne Putzen und Abmarsch.“ Das Problem Johannes löst sie damit nicht, aber so What..? Denn wie heißt es so schön ?...after all, tomorrow there is another day. Eine halbe Stunde später ist in der kleinen Doppelhaushälfte endlich Ruhe eingekehrt. Nachdem alle aufgeräumt sind, die Kinder in der Schule, der Mann in seinem Keller im Homeoffice, die Kaninchen in ihrem Freilaufgehege, der Hund auf seiner Matte und das Geschirr in der Geschirrspülmaschine, überlegt die Frau, wo sie heute ihr Büro aufschlagen soll. Lieber oben statt Esstisch, entscheidet sie spontan. Ausschlaggebend dafür sind die lauten Gesprächsfetzen, die aus dem Homeoffice im Keller bis ins Erdgeschoss hinaufdringen. Ein grauenvolles Englisch in einem Big German Akzent gepaart mit einem noch grauenvolleren Englisch in einem Big Chinese Akzent. So, jetzt aber mal zackig, denkt sich die Frau, die inzwischen an ihrem Schreibtisch sitzt und ihren Computer hochfährt. Erstmal die neuen Emails checken. Sie überfliegt die Erste: ..Wiederholt zwei Fälle von Corona in der K1…kein Problem……Schüler quasi kaum anwesend gewesen….des Weiteren entfallen drei Lehrkräfte …haben sich im häuslichen Umfeld angesteckt….alles nicht wild….blabla…..Die Mutter scrollt weiter. So, da die erste geschäftliche Mail. Sie will sie gerade lesen, als der Hund mit lautstarkem Gebell und Schnappatmung zum Hauseingang rennt und Sekunden später die Türklingel betätigt wird. Ah, die Post. Geschickt, dass man das vom Fenster aus regeln kann, denkt sich die Frau und vertieft sich wieder in ihre Arbeit. Allerdings nur für die nächsten fünf Minuten. Abermals wird sie vom lautstarken Gebell und einem langanhaltenden Klingelton unterbrochen. Diesmal steht nicht die Post, sondern ihr Sohn vor der Tür. „Fällt aus“, sagt er nur, schmeißt zuerst seinen Schulranzen in die Ecke, dann seine Schuhe und zuletzt sich selbst mit Handy in der Hand aufs Sofa. Nachdem das Thema Händewaschen und die nächste S-Bahn geklärt wurde, setzt sich die Frau sichtlich genervt wieder an ihren Arbeitsplatz. Das hier ist also der viel gepriesene Präsenzunterricht. Dabei kann sie es sich nicht verkneifen, die Situation mit der vor einem Jahr zu vergleichen. Damals hatten sie alle vier noch eine Stunde länger ausschlafen können und dann jeweils strukturiert im Homeoffice bzw. Fernunterricht ihre Aufgaben erledigen können. Um 11. Uhr gab es dann in der Regel eine kleine Pause. Ihr Elf-Uurtje Ritual, wie sie es nannte und das sie gemeinsam mit ihrer Tochter zelebrierte. Manchmal kam es heute noch vor, dass sie um 11 Uhr zwei Becher mit Latte Macchiato vorbereitet, um dann einen davon wieder auszuschütten. Wie auf Bestellung summt das Handy auf dem Tisch neben der Frau. Eine Nachricht von ihrer Tochter:“ Kunst fällt aus. Komme gegen 10 Uhr. Machst du einen Latte?“ Die Frau schaltet seufzend ihren PC aus und geht runter in die Küche. Natürlich hatten sie im Lockdown nicht nur Latte gesoffen. Sie hatten auch zahlreiche Waldspaziergänge unternommen, diverse Gesellschaftsspiele vor und rückwärts gespielt und über 1000 teilige Puzzle zusammengelegt. Und als ihnen das zu langweilig geworden war, hatten sie sich durch sämtliche Netflix Serien gefräst. Diese waren zugegebener maßen nicht immer ganz altersgerecht für ihre Kinder gewesen. Ein Laken zum Abdecken entsprechender Szenen war dabei die einzige pädagogische Maßnahme gewesen, die sie getroffen hatten. Aber das ist ihr Familiengeheimnis. Wobei, so sicher ist sich die Frau inzwischen auch nicht mehr. Seitdem ihr Sohn wieder am Präsenzunterricht teilnimmt, könnte er durchaus eine undichte Stelle im System darstellen. Insgesamt aber hatte die Lockdownzeit sie zusammengeschweißt. Selbst das gemeinsame spätabendliche Schneckeneinsammeln hatte dazu beigetragen. Inzwischen hat sie allerdings gelernt, ihre Gedanken dazu für sich zu behalten. Denn einmal war es ihr herausgerutscht, bei einer Tasse Café mit einer mit einer Freundin. „Es war doch nicht nur schlimm gewesen, es gab doch auch gute Momente im Lockdown“, hatte sie angefangen. Aber nachdem sie den Gesichtsausdruck ihrer Freundin interpretiert hatte, verzichtete sie auf eine weitere Ausführung und wechselte schnell das Thema. Schon klar, sie hatten mit ihrem Haus und Garten gewisse Privilegien genossen, die anderen verwehrt geblieben waren. Zu Beginn der Corona Pandemie hatte die Frau noch die Hoffnung gehegt, dass sich aus dem ganzen Elend auch etwas Gutes entwickeln könnte: Eine Erholung der Natur, ein gesünderes Konsumverhalten und vielleicht sogar eine Rückbesinnung auf familiäre Werte. Aber diese Hoffnung hat sich inzwischen zerschlagen. Auch gesamtgesellschaftlich gesehen hat sich seitdem viel verändert. Aus dem anfänglichen Wir-schaffen-das-Gefühl und den vielen Solidaritätsbekundungen, seien es die rührenden Szenen auf den italienischen Balkonen, die Prämierung der Corona-Helden im Radio oder der tobende Applaus für die Belegschaft im Krankenhaus, war eine ungute zwei Fronten Gesellschaft geworden. Die rücksichtslosen Freiheitsliebenden auf der einen Seite und die im Dauerpanikmodus Total-Lockdown-Befürworter auf der anderen. Dazwischen gibt es noch viele Nuancen, die sich wiederum feindlich gegenüberstehen. Beide Gruppierungen beschimpfen sich, wo es nur geht, vor allem in den sozialen Netzwerken. Derzeit kommen vor allem die rücksichtslosen Freiheitsliebenden und die abgemilderten Nuancen davon auf ihre Kosten. Denn die ganze Welt redet von Lockerungen. Corona hat durch Omikron seinen Schrecken verloren. Die Stimmen, dass es sich im Wesentlichen um einen Schnupfen handelt, der Erwachsen nichts anhaben kann und Kindern schon mal gar nichts, mehren sich. Was davon Wahrheit, politisches Kalkül oder einfach nur Wunschdenken ist, bleibt ein Geheimnis und kann nur von der Zukunft aufgedeckt werden. Die Frau bleibt diesbezüglich skeptisch, versucht ihre Endemie-Euphorie zu zügeln und vertraut weiter auf gewisse Schutzmaßnamen. Aber auch sie, der man das so, wie sie da in ihrer Küche steht, in ausgebeulter Jogginghose und labbrigem Home-Office-Shirt, hat ihre Geheimnisse. Zum einen ist da ihr teuflischer Plan, all die Geschehnisse und Ungereimtheiten dieser seltsamen Zeit zusammenzufassen und in einem Roman niederzuschreiben. Das zweite Geheimnis liegt hinten in der Schublade: Es besteht aus vier Eintrittskarten zu einem Open-Air-Konzert der Toten Hosen im Juni. Eigentlich ein Ereignis, dass schon vor zwei Jahren hatte stattfinden sollen. Aber diesmal will sie es durchziehen, und da kann kommen was will: Epsilon, Gamma, oder eine Kreuzmischvariante davon. Und es ist ihr auch egal, dass ihre 17-jährige Tochter dem Ereignis mit einer Miene ‘man seid ihr peinlich‘ beiwohnen wird. Wenn also bis dato weder die Russen einmarschiert sind oder Putin gar Schlimmeres veranlassen hat, dann wird sie es durchziehen. Dann werden sie alle vier an diesem Tag im Juni in vollausgestatteter Fanbekleidung auf ihren gebuchten Plätzen nebeneinandersitzen und sie wird sich dann bei einer Textpassage nicht ausbremsen, vom Sitzplatz aufspringen und völlig hemmungslos mitgrölen: … „Ich will nicht ins Para-dies, wenn der Weg dort-hin sooo schwie-rig ist. Ich stel-le kei-nen An-trag auf A-syl. Mei-net-wegen bleib ich hier.“ Das hat sie sich nach zwei Jahren Pandemie und fremd bestimmt sein fest vorgenommen.
Noch herrscht im 10 Arrondissement von Paris, auf dem Place Napoleon III, dem Vorplatz des Gare du Nord eine beschauliche Ruhe. Kaum vorstellbar, dass sich über den Tag verteilt bis an die 15 000 Reisende auf dem Gelände tummeln werden. Denn nicht umsonst zählt der dritt größte Bahnhof zu einem der wichtigsten Knotenpunkte der Welt. In diesen frühen Morgenstunden eines späten Februartages im Jahre 2042 halten sich allerdings nur eine Handvoll Frühpendler mit Aktenkoffer, einige Reisende mit Koffern und das übliche Stammpublikum vor der majestätischen Fassade im neoklassischen Stil auf. Eine japanische Reisegruppe, die sich in einigen Metern Abstand an einer Laterne versammelt hat, und gerade die 26 Statuen der Fassade fotografiert, blickt irritiert auf, als in unmittelbarer Nähe ein altmodisches Taxi unter einer hohen Geschwindigkeit abbremst und mit quietschenden Reifen vor dem Eingangsbereich des Gebäudes zum Stehen kommt. Kurz darauf sprintet ein Taxifahrer vom Fahrersitz zum Kofferraum, entlädt mehrere Gepäckstücke und hilft daraufhin seinem weiblichen Fahrgast beim Aussteigen. Die gepflegte Frau um die 70 glättet energisch ihren grauen Hosenanzug, greift beherzt zu ihrem Handgepäck und verschwindet mit resoluten Schritten und wippendem Pferdeschwanz im Innenbereich des Gebäudes. Ein riesiger silbergrauer Suite Case mit automatischer Steuerung folgt ihr dabei. Schon wenig später hantiert ein junger Franzose mit dem gleichen sperrigen Gepäckstück und versucht es im vorderen Wagon eines Thalys Express auf die dafür vorgesehene Ablage zu wuchten. Als ihm dies schließlich gelingt, lässt er sich schwer keuchend auf den freien Sitzplatz neben der Frau mit grauem Pferdeschwanz plumpsen und lächelt sie an. Die Frau nickt ihm knapp zu und konzentriert sich demonstrativ auf ihre mitgebrachte Lektüre: „Weihnachten mit Loriot“, steht auf dem Einband. Sie beginnt zu lesen: Es blaut die Nacht, die Sternlein blinken, Schneeflöcklein leis herniedersinken….. „Madame, allez-vous à Cologne aussi ? Unterbricht sie der kontaktfreudige Franzose, schlägt die Beine übereinander und spricht weiter « Je rends visite à ma soeur, Jaqueline. C'est à l'hôpital. Cologne est bonne. De bons médecins allemands…. »
Die Frau nickt, seufzt und blättert geräuschvoll ihre Buchseite um. Leider scheint der junge Mann etwas begriffsstutzig zu sein. Er plappert munter weiter drauf los. Oh, merde, denkt sich die Frau, hoffentlich erzählt er nicht seine gesamte Familiengeschichte. Aber schon geht’s los. Mit sämtlichen Krankengeschichten. Eine Nierenerkrankung seiner Schwester, dann seine eigene. Irgendwas mit eingeschränkter Lungenfunktion, die vor einigen Jahren bei ihm festgestellt wurde. Die Frau blättert geräuschvoll weiter. Wahrscheinlich handelt es sich bei ihm auch um eines dieser Durchseuchungskinder, vermutet sie. So nennt ihre etwas derbe Freundin Thea die Mittdreißiger gerne. Gott sei Dank, der Redeschwall des Franzosen wird durch das Erscheinen eines Zugbegleiters unterbrochen: „Bonjour, madame et monsieur. Les billets, s’il vous plait.“ Erleichtert überreicht die Frau dem Zugbegleiter ihr Mobil-Phone. „Merci Madame Hubjee et Monsieur Depois! Et Bon Voyage.“ Und schon ist der Zugbegleiter wieder auf dem Gang verschwunden. Sie verstaut ihr Buch in der Handtasche und versucht es diesmal mit Kopfhörern. Bei Yogamusik lässt sich schließlich auch ganz gut entspannen. Ja, ja, Madame Huebjée…. Das ist sie jetzt seit mindestens 15 Jahren. Seit dieser Zeit heißt sie nicht nur so, sie hat auch ihren Wohnort gewechselt. Von der beschaulichen Pfalz ins turbulente Paris. Dort bewohnt sie im 5. Arrondissement ihrer Wahlheimatstadt ein schickes Apartment im 1.OG eines Jugendstilgebäude. Ein ehemaliger Kollege aus dem Büro des Bundesjustizministeriums hat es ihr nach ihrer Scheidung und ihrem Austritt aus der Politik vermittelt. Aber wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte und ihren Amtseintritt als Kultusministern rückgängig machen könnte, sie würde es sofort tun. Niemals hätte sie dieses Büro in Mainz verlassen und ihren ehrvollen Beruf als Juristin an den Nagel hängen dürfen. Aber Manu, die damalige Ministerpräsidentin, hatte einfach nicht lockergelassen. “Ach Steffi, das ist deine Chance, deine Eintrittskarte in die Welt der Politik. Die bekommst du nie wieder.“ Hatte sie ihr zugeredet. „Mach dir doch keine Sorgen! Ob jetzt Justizvollzugsanstalt oder Schulwesen, das ist doch Jacke wie Hose. Bei beidem geht es um die Organisation von Menschen in einer Gemeinschaft. Um das soziale Miteinander und vor allem um den finanziellen Rahmen, der durch fähige Leute wie dich abgesteckt werden muss.“ Ja, da hatte die Manu schon recht. Aber mussten es unbedingt Kinder sein? Sie hat selbst nie welche haben wollen, und wenn sie ehrlich ist, kann sie Kinder nicht mal besonders leiden. Aber letztendlich hatte sie doch zugestimmt. Das mit den Kindern war auch nicht so schlimm geworden. Da konnte man als Kultusministerin schon den nötigen Abstand halten. Unangenehm blieben allerdings die Termine Vorort an den Lehranstalten. Daraus hatte sie nach dem allerersten Mal vor allem eine Lehre gezogen: Betrete unter keinen Umständen ein Schulhaus, ohne vorher zu Hause auf Toilette gewesen zu sein! Einfach ekelhaft. Weder eine funktionierende Spülung noch Seife, geschweige denn sowas wie Papiertücher hatte sie vorgefunden. Und dann kam von der Schulleitung wieder die übliche Ausrede: Keine finanziellen Mittel vorhanden. Als ob die Lehrer nicht mal ein kleines Stückchen Seife in Eigeninitiative spenden konnten, zumindest für die Lehrertoilette, wenn Besuch im Hause war. Sie schüttelt missbilligend den Kopf und konzentriert sich wieder auf ihre Yogamusik. Mit einem Seitenblick auf die Gepäckablage vergewissert sie sich, ob sie auch an ihre Yogamatte gedacht hat. Denn diese würde sie spätestens nach dem Treffen mit ihren 15 ehemaligen Mitstreitern bitter benötigen.
Der Zug gleitet lautlos durch Raum und Zeit. Auch der Franzose, der sich inzwischen mit seinem Mobile Phone beschäftigt, hat endlich verstanden, dass ihr nicht nach Konversation zumute ist. Die Frau blickt aus dem Fenster. Bei der hohen Geschwindigkeit des Zuges kann sie kaum noch die Landschaft, die an ihr vorüberzieht, wahrnehmen. Bleierne Müdigkeit übermannt sie und sie fällt in einen unruhigen Schlaf. Dieser endet abrupt, als eine Gruppe Schüler lärmend durchs Abteil poltert. „Hey Bitch, du hast was verloren!“ ruft ein Schüler direkt neben ihrem Ohr und schleudert einen kleinen neonfarbenen Rucksack durch den Gang. Die Schülergruppe, gerade mal acht, lassen sich keine 2 Meter von ihr entfernt nieder und lärmen in den beiden angrenzenden Sitzsequenzen weiter. Wahrscheinlich sind sie auf dem Weg zu einem dieser außerschulischen Lernorten, die einige Jahre nach ihrer Amtszeit vielerorts in Deutschland entstanden sind. Man, man, man grummelt die Frau. Da hatten sie sich aber auch so einiges an Blödsinn einfallen lassen. Von Grünflächenerweiterungsprojekten für sportliche Aktivitäten über Kleingruppenunterricht bis hin zum schadstoffarmen Klassenzimmer mit Luftfilteranlage. Ganz zu schweigen von all den neu geschaffenen Lehrerstellen und der kostspieligen Digitalisierung: Woher kamen denn die Mittel dafür? Als ob die Auswirkungen durch Pandemie und Putin-Krieg die deutsche Haushaltskasse nicht schon genug belastet hatten. Und viel gebracht hat es anscheinend auch nicht, wenn man sich das verzogene Häufchen Schüler da vorne anschaut. Madame Huebjée blickt verstohlen auf die Schülergruppe, von der man inzwischen außer den Geräuschen, die ihre MobilePhones erzeugen, nichts mehr hört. Müsste eine 6. Klasse sein. Denkt sie sich. Sie hatte damals auch mal eine besucht. Zusammen mit Manu. Aber das war noch zu Zeiten, als Schüler noch Schüler waren. Die waren nicht so verhätschelt gewesen. Damals gab es noch Disziplin. Da wurde der Präsenzunterricht noch geschätzt und dafür waren die Schüler zu allem bereit. Vom Dauerlüften bei Eiseskälte, über tägliches Tragen eines Mund Nasenschutzes bis hin zum mehrmaligen Abstrich der Nasenschleimhäute. Später nahmen sie für den Präsenzunterricht sogar Mehrfachinfektionen mit Corona in Kauf. Daran war doch bei dem verwöhnten Sauhaufen da vorne nicht zu denken. Ach ja, damals…Ganz gerne erinnert sie sich an eine Demonstrationsstunde zum Gebrauch von Schülerteststäbchen zurück. Sie und Manu waren bei der Premiere dabei gewesen. Es war das allererste Mal, dass diese Selbsttests in einer pfälzischen 6ten Klasse zum Einsatz kamen. Manu und sie durften dem Ganzen mit Abstand auf Gästeplätzen im vorderen Bereich des Klassenzimmers beiwohnen. Der schicke Schulleiter war so zuvorkommend gewesen, die vorderen Fenster ausnahmsweise für sie zu schließen, damit sie nicht die ganzen 10 Minuten im Durchzug saßen. Er hat dann souverän und locker durchs Programm geführt. Sie hatten gemeinsam mit den Schülern die Zeit gezählt, die bis zum Ablesen des Ergebnisses benötigt wurden, hatten über kitzelnde Nasen gelacht und sich anschließend über die negativen Testergebnisse gefreut. Der schönste Moment war später auf dem Pausenhof gewesen. Als sie der Presse endlich mitteilen konnten, dass der Präsenzunterricht mittels Teststrategie endlich wieder stattfinden konnte und Schulen, was Corona angeht, zu einem der sichersten Orte der Welt zählen. Madame Huebjée blickt auf ihre Armbanduhr. Lange kann die Reise nicht mehr dauern. Sie haben soeben Hauptbahnhof Dortmund hinter sich gelassen.
Rückblende -Frühjahr 2021
Der Gebäudekomplex der Realschule Kleine Kalmit im typischen Baustil der 70er Jahre liegt am Rande des idyllischen Weinortes Ilbesheim. Der Namensgeber der Schule, eine kleine Kapelle, thront hoch oben auf dem angrenzenden Weinberg und lockt im Spätsommer viele Besucher an. Ansonsten handelt es sich aber eher um einen beschaulichen kleinen Ort in der Vorderpfalz, der malerisch zwischen der hügeligen Landschaft mit Weinbergen eingebettet ist. Der gesamte Ort strahlt eine ländliche Ruhe aus und auch auf dem Schulhofs Gelände herrscht an diesem Nachmittag im Vorfrühling nahezu gähnende Leere. Außer den drei Jugendlichen, die lustlos einen Ball gegen eine Mauer kicken und den beiden Putzfrauen, die sich noch ein kleines Schwätzchen vor dem Haupteingang gönnen, hält sich niemand mehr auf dem eher öden Vorhof auf. Auch das Gebäude selbst, dass seine beste Zeit schon hinter sich gebracht hat, wirkt wie ausgestorben. Nur in einem der Klassenzimmer im Erdgeschoss wird gerade ein Fenster mit viel Lärm und unter Flüchen begleitet nach mehreren schwungvollen Versuchen allem Anschein nach gewaltsam verschlossen. In dem Klassenzimmer befindet sich, außer dem Lehrer, niemand mehr. Es ist der Herr Walter, Klassenlehrer der Klasse 6a. Er schleppt sich nach den üblichen Handgriffen, die zum Verschließen des Fensters nötig sind, zu seinem Lehrerpult, lässt sich erschöpft auf seinen Stuhl sinken und vergräbt seinen Kopf verzweifelt in seiner Armbeuge. “Was für eine Blamage“, stöhnt er und rauft sich die Haare. Dabei fegt er seinen seidenen Schaal, der neben ihm auf dem Pult im Kreidestaub liegt mit einer aggressiven Ellenbogenbewegen vom Tisch. Auf was hatte er sich da bloß eingelassen? Und der Tag hatte schon so beschissen angefangen. „Hola, der feine Herr Walter, heute sind wir aber schick unterwegs“. Oder „Mensch Holger, übernimmst du den Laden hier, Glückwunsch“. So und ähnlich hatten seine Kollegen ihn heute Morgen im Lehrerzimmer aufgezogen. Das mit dem Schal war die saublöde Idee seiner Frau gewesen. Ihrer Meinung nach sollte er sich für den anstehenden Besuch aus dem Ministerium mal von der üblichen Arbeitskluft, die bei ihm seit Jahren aus Kordhose und schwarzen Rollkragenpullover bestand, trennen. Die beiden Trullas vom Ministerium hatte er damit anscheinend beeindrucken können, denn sie hielten ihn tatsächlich für den Schulleiter. Aber von diesem war heute Morgen nicht viel zu sehen gewesen. Vor etwa einer Woche wurde er von ihm auf dem Gang angesprochen. Mit einer Sache, die ihm anscheinend ziemlich unangenehm war. Sein erster Impuls, als er den Inhalt begriffen hatte, war Flucht gewesen und so hatte er auf die Anfrage des Rektors mit einem schlichten „Nein Danke“ geantwortet. Aber dann ist ihm im Nachhinein klar geworden, dass er sich das aktuell gar nicht leisten kann. Zu viele Lehrerköpfe aus dem Kollegium waren gegen Ende des letzten Schuljahres gerollt. Man hatte sie ohne groß zu Fragen aufgrund des akuten Lehrermangels an andere Dienstorte versetzt. Das hatte ihm gezeigt, dass heutzutage ein guter Draht zum Rektor allein nicht ausreicht. Letztendlich hatte er also unter Zähneknirschen zugesagt, leider… Der Lehrer sammelt im Gedanken daran lustlos die Utensilien auf seinem Pult zusammen. Mehrer zerknäulte Taschentücher, sein Mäppchen und die Teststäbchen der Schüler. Als er seinen Schal vom Boden aufheben möchte sieht er gerade noch im Augenwinkel einen Schatten an sich vorbeihuschen. Kurz darauf steht ein verdutzter Schüler mit Turnbeutel, den er gerade aus der hinteren Bankreihe gefischt hat, vor ihm. „Alles in Ordnung mit ihnen, Herr Walter?“, fragt dieser besorgt. Herr Walter winkt müde ab.“ Ala hop Simon, wers näad in de Kopp hod, der hods in de Bää“, neckt er den Schüler mit letzter Kraft. Daraufhin strahlt ihn der 6 Klässler entwaffnend an und ist auch schon wieder verschwunden. Ach ja, denkt sich der Lehrer, sie sind ja schon goldig, seine Schüler. Vor allem, wenn sie nicht im Rudel auftreten. Der Lehrer geht nochmals durch die Bankreihen und kontrolliert die restlichen Plätze. So aufgeräumt wie heute ist sein Klassenzimmer nur selten. Gestern hat er noch schnell mit zwei Schülern zusammen die ganz üblen Tische Marke Uralt durch neuere ersetzt. Danach hat er mit dem Nagellackentferner seiner Frau die Schmierereien von Joshuas Tisch bearbeitet. ‚Verpisst euch, Bitches!‘ hatte dieser, kreativ wie er war, mit Edding als Nachricht für den heutigen Besuch auf seinem Tisch hinterlassen. Joschua selbst war heute nicht anwesend gewesen. Dafür hatte Herr Walter aus guten Gründen gesorgt. Auch ein paar andere Chaoten wurden für die heutige Demonstrationsstunde ausgetauscht. Und trotzdem war es zu einem Desaster geworden. Nicht wegen der Schüler, sondern wegen ihm. Verzweifelt über das eigene Unvermögen versetzt er der Schultafel einen kleinen symbolischen Tritt, als sich die obere Tafelhälfte plötzlich selbständig macht und mit einem lauten Knall auf den Rand der unteren Hälfte kracht. „Mist!“ ruft er. Wie konnte er das vergessen? Der Tafel Stopper konnte ja nicht ersetzt werden und eine neue Tafel war zu teuer. “Neue Tafel nix gut, viel Geld. Schule nix Geld,“ hatte ihn der Hausmeister freundlich aufgeklärt und ihm den Trick mit dem Lineal gezeigt. Seitdem fixierte er die obere Tafelhälfte mit seinem Lineal, dass jetzt in zwei Hälften vor ihm auf dem Boden liegt. Er hebt die beiden Teile auf und lässt sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Deprimiert betrachtet er die Bruchstelle. Das aller Schlimmste, und dabei zerbricht er mit voller Absicht abermals eine Hälfte, das aller Schlimmste daran ist, dass jeder diesen Bockmist sehen kann. Schon allein diese affige Zählerei! Wie blöd hatte er nur sein können und zum Thema Infektionsschutz mit der gesamten Klasse ohne Maske laut das Zählen anzufangen? Aber ihm war schlicht und ergreifend nichts Besseres eingefallen. Was hätte er in dieser Zeit denn sonst tun sollen? Etwa einen Purzelbaum schlagen? Als die eine Ministerin dann noch Scherze über das Niesen der Schüler beim Testen machte, hätte er am liebsten seine Jacke genommen und sich von den beiden Tanten vorne am Gästetisch verabschiedet. Nach dem Motto:“ Hey Leute, ich hab keine Lust mehr, ich geh jetzt nach Hause.“ Aber selbst das war nicht möglich gewesen, denn die Eingangstür wurde von Pressefutzis verbarrikadiert. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die verfluchten Teststäbchen möglichst schnell und ohne genaues Hinsehen wieder einzusammeln. Mehr war auch nicht nötig gewesen, denn man hatte ihm allzu eindringlich eingebläut, dass negative Ergebnisse erst nach den Filmaufnahmen thematisiert werden sollen. Der Lehrer erhebt sich müde von seinem Platz am Pult, schultert seine Lehrertasche, versenkt vor dem Verlassen des Klassenzimmers die Tüte mit den Taschentüchern und Teststäbchen im grünen Mülleimer und verschließt sorgfältig den Raum. So, das wars für heute, denkt er sich und stellt sich ein großes Glas Schoppen vor, das er heute Abend auf Ex vernichten wird.
Ein Jahr später und einige Kilometer entfernt, in einem nahezu identisch wirkenden Gebäude wird soeben eine nahezu identische Tür von einer nahezu ebenso erschöpften Lehrerin am Ende eines langen Schulvormittags sorgsam verschlossen. Sie befindet sich in einer Gesamtschule mit dem verheißungsvollen Namen Inselschule. Wie die Realschule Kleine Kalmit trägt auch sie ihren Namen aufgrund ihrer Umgebung. Allerdings erscheint es eher unwahrscheinlich, dass ein Außenstehender beim Anblick des Gebäudekomplexes die Assoziation einer Insel vor Augen hat. Die Schule liegt an einer befahrenen Hauptverkehrstrasse, die am Lehrerparkplatz vorbei um das eher unattraktive Stadtzentrum von Pforzheim führt. Macht man sich aber die Mühe, und Frau Wolf gehört zu den Lehrerinnen, die sich die Mühe gemacht hat, so kann man die Namensgebung durchaus nachvollziehen. Blättert man also in der Geschichte zurück, so erfährt man, dass die hässliche Stadt vor dem Zerbomben im zweiten Weltkrieg gar nicht so hässlich, sondern wunderschön war. Blättert man noch weiter zurück, so erfährt man, dass schon die Römer die attraktive Lage dieses Ortes zu schätzen gewusst haben und dort eine Stadt mit dem Namen Portas errichtet haben. Die Lage im Tal, die Nähe zum Schwarzwald und die wilde Enz, die sich durchs Tal schlängelt, dürfte dabei eine Rolle gespielt haben. Früher soll sich die Enz an der Stelle, an der heute die Gesamtschule steht, gegabelt haben und somit ein Gebiet gebildet haben, dass dem Namen Insel durchaus würdig war. Aber Frau Wolf ist im Moment weit entfernt davon, ihrem Arbeitsort eine romantische Betrachtungsweise abzuringen. Mit einer FFP 2 Maske bewaffnet eilt sie mit schwerer Schultasche und einer Stofftüte mit Klassenarbeitsheften durch den Gang. Nachdem sie mit einigen ihrer Schüler noch ein klärendes Gespräch zu führen hatte muss sie jetzt Gas geben. Denn allzu eindringlich hat die Schulleitung gestern allen Anwesenden nahegelegt, unbedingt pünktlich zu erscheinen. Schließlich gibt es viel zu besprechen, in dieser letzten Konferenz vor Ostern.
Auf dem Weg ins Lehrerzimmer, auf dem Frau Wolf rasch und unauffällig an der offenen Sekretariatstür vorbeigehuscht ist, hört sie fast zeitgleich hinter sich ihren Namen rufen: „Ha Simone, guad, dass i di see!“ Im Türrahmen steht Frau Eisele mit wirren Locken und einem Stapel Materialien in den Händen und legt auch schon los: “I hon dahana dai Schülermadderial: ‚Ein Leben auf der Flucht‘. Jo ond sei so guad, meld di bei Frau Weiß. Die Guate woiß immer no net, wie lang ma sei Sohn dohoim behält mid Corona…Jo ond des Xondheidsamd bittet dich…..“. „Du Martina, ich muss,“ versucht Frau Wolf den Redeschwall zu unterbrechen und zeigt dabei mit Nachdruck auf ihre Armbanduhr. Daraufhin drückt ihr Frau Eisele, die alle hier liebevoll das Trudele nennen, wortlos die Arbeitshefte in die Hand und verschwindet mit gekränkter Miene wieder im Sekretariat. Diesmal nicht ohne die Tür hinter sich zu schließen. Schade, denkt sich Frau Wolf. Früher hatten sie am Kaffeautomaten immer so schön ‘zwischenai‘ getratscht, aber seit Corona hatte keiner mehr Zeit für den anderen. Bei dem Gedanken öffnet sie vorsichtig das Lehrerzimmer und schleicht unter den strengen Blicken aller Anwesenden möglichst unauffällig auf ihren Platz, hängt lautlos die Jacke über die Stuhllehne und richtet ihren Blick so interessiert wie möglich auf den Schulleiter Herrn Gerhards, der am Tischende bereits mit seinem Eingangsplädoyer begonnen hat.
„Und jetzt nochmal für alle“, dröhnt er, und fixiert dabei Frau Wolf, „dieser Saustall hier muss unverzüglich behoben werden.“ Dabei haut er zur Verwunderung aller Anwesenden mit der flachen Hand so kraftvoll auf den Tisch, dass sämtliche abgestellten Gläser ins Vibrieren geraten. Ausgenommen die beiden Kaffeetassen, die anscheinend schon längere Zeit mittels alter Kaffeereste an der Tischplatte festkleben und zwei erkrankten Kolleginnen zu gehören scheinen. Frau Wolf schaut sich um. Mal abgesehen von der Intensität dieser Aufforderung muss sie Herrn Gerhard mit seiner Kritik Recht geben. Eigentlich liebt sie ein quirliges, nicht immer ganz ordentliches Lehrerzimmer. Ihrer Meinung nach darf man ruhig sehen, dass hier getratscht, gearbeitet und gelebt wird. Aber das hier ist schon jenseits von dem, was man als gesellig bezeichnen kann. Es wirkt eher wundgelebt. An der Heizung stapeln sich seit Monaten Unterrichtsmaterialien, für die sich keiner verantwortlich fühlt. Der große Tisch ist übersät mit Kleinkram wie angebrochene Keksschachteln, Schülerhefte und Broschüren im Klassensatz, sowie herrenlose Tassen und abgelegte FFP2 Masken. Und über den Stühlen hängen seit Wochen die gleichen Schals und Westen erkrankter Kollegen. Selbst auf dem Fenstersims hat sich aufgrund des krankheitsbedingten Fernbleibens der Putzfrau eine dicke Staubschicht gebildet. Inzwischen streicht sich Herr Gerhards eine Haarsträhne, die ihm vor die Augen gefallen ist, hektisch zurück und leitet zum Tagesprogramm über. Seinen kleinen Wutausbruch verzeihen ihm alle. Denn er ist einer von ihnen, quasi vom Volke erwählt. Als damals vor fünf Jahren mit der Pensionierung seines Vorgängers die Frage im Raum stand, wer nun künftig an der Inselschule die Zügel in der Hand halten soll, hatten ausnahmslos alle Finger auf ihn gezeigt. Auf den beliebten jungen Konrektor, der eigentlich nie hat Rektor werden wollen. Und so hatte er nach einigen Überredungskünsten von Seiten der Kollegen sein Amt mit viel Elan und völlig ahnungslos darüber, was die Zukunft so alles an Unwegsamkeit für ihn bereithielt, übernommen. Federn hat er dabei schon gelassen, denkt sich Frau Wolf, und betrachtet seinen teilweise ergrauten Haarschopf und seine erschöpften Gesichtszüge. Kein Wunder. Bei ihr werden auch schon die ersten Sorgenfältchen sichtbar und manchmal ist sie morgens ganz dankbar dafür, dass sie das Ganze unter einer Maske verbergen kann. Die Tagesordnungspunkte Maske und Schülertests, die Herr Gerhards gerade anspricht, sorgen wieder mal für erregte Gemüter im Kollegium. Wie schon in vergangenen Sitzungen kommt es auch heute zu einem hitzigen Austausch mit dem jeweiligen Sitznachbarn und mündet in einem allgemeinen Durcheinandergeplapper, dass wenig zielgerichtet ist. Der Schulleiter beendet die Diskussion, indem er beschwichtigend abwinkt und darum bittet, die Einzelgespräche wieder einzustellen und den Fokus auf Frau Schuster zu seiner Linken zu richten. Frau Schuster bekleidet zwar nicht die Stelle der Konrektorin, da diese vorübergehend gestrichen wurde, aber dennoch kann man sie mit ihrer helfenden Hand und den zwei gutgeschriebenen Schulstunden in gewisser Weise zur Schulleitung zählen. Sie wedelt bereits mit einem Schreiben, dass heute Morgen taufrisch vom Büro des Kultusministeriums im Faxgerät der Schule gelandet ist. Passend zum Thema möchte sie einen Abschnitt daraus vorlesen. Sie räuspert sich, atmet einmal schwer durch und fängt an mit „…dort heißt es…“ räuspert sich abermals und liest:“…deshalb soll aus gegebenem Anlass ab dem kommenden Monat April die bestehende Masken- und Testpflicht gänzlich aufgehoben werden. Für eine gesicherten Rückkehr in die Normalität werden aufgrund der Vorbildfunktion vor allem die Lehrkräfte dazu angehalten, die hinfällig gewordene Maßnahme abzulegen. Der hohe Sicherheitsstandart an den Baden-Württembergischen Schulen soll durch die Aufrechterhaltung des Basisschutzes weiterhin gewährleistet bleiben……“, und damit lässt die Rednerin ihr Schreiben sinken und blickt unsicher in die ausdruckslosen Gesichter ihrer Kollegen und Kolleginnen. „Hat noch jemand Fragen dazu?“, ergänzt sie leise? Aber es bleibt ruhig am Tisch. Einige Kollegen scheinen auf ihrem Stuhl regelrecht zusammengesunken zu sein und selbst den Maskenkritikern unter ihnen ist das eine Nummer zu groß. „Was genau beinhaltet Basisschutz?“, kommt es nach einer Weile von ganz hinten rechts. Die Rednerin überfliegt nochmals das Schreiben und scheint etwas gefunden zu haben. „Hier steht Folgendes, dass auf Basisschutz hindeuten könnte…“, und dafür rückt sie ihre Lesebrille wieder auf dem Nasenrücken zurecht: „Im Falle einer Erkrankung mit eindeutigen Corona Symptomen und Fieber über 40 °C sollen die Eltern dazu angehalten werden, ihr Kind, wenn möglich, für mindestens einen Tag vom Präsenzunterricht fernzuhalten.“ Als die Rednerin diesmal in die Runde blickt, scheinen die Gesichter ihrer Kollegen und Kolleginnen noch länger geworden zu sein. Um die Stimmung wieder etwas aufzuhellen, ergänzt sie noch den letzten Abschnitt des Schreibens. Er beinhaltet wohlwollend die in Kenntnisnahme des Arbeitsaufwandes, der aktuell an Schulen geleistet werden muss ist. Darin bedankt sich die Kultusministerin Frau Shopper ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit mit den Lehrkräften, wünscht weiterhin einen gesunden und fruchtbaren Austausch auf Augenhöhe, und freut sich auf die neuen Herausforderungen, vor allem im Hinblick auf die Integration und anstehende Beschulung ukrainischer Kinder. Das Schreiben endet mit freundlichen Grüßen und den Besten Wünschen für die Osterfeiertage. An dieser Stelle beendet auch Frau Schuster ihren Vortrag und legt das Schreiben akkurat vor sich auf den Tisch. Als sie zum dritten Mal in die Runde blickt, gibt es eine Meldung dazu. Es ist Rudi Ratlos. Im wahren Leben Rudi Richter. Er befindet sich mit seinen 42 abgeleisteten Dienstjahren kurz vor der Pensionierung und hat sich seinen Spitznamen durch häufiges Nachfragen in IT-Fortbildungen verdient. Heute hat er aber keine Frage. Heute geht es um ein Statement, dass er, nachdem er sich vom Platz erhoben hat, laut verkündet: „Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen“ und dann an Herrn Gerhard gewendet: „Lieber Herr Gerhards.“ Er macht eine kleine Pause, und setzt fort, diesmal auf Schwäbisch: „I lieb mai bruf ond i bin gern zur Schule ganga, aber mai ledzda Diensdjahre, die wara wie oi Hühnerleidr. Vo oba bis unda bschissa. Und des kannsch denne im Kuldusminischderium mid ganz lieba Grüßa vom Rudi Richter ausrichda.“ Und damit lässt sich wieder auf seinen Platz fallen. Deutlicher kann die Enttäuschung über das Ministerium, dass sich seit Jahren vor allem durch Inkompetenz und fahrlässigen Umgang mit den Arbeitskräften auszeichnet, nicht zum Ausdruck gebracht werden. Kein Wunder also, dass das gesamte Kollegium den Beitrag gebührend huldigt, indem es einstimmig und rhythmisch auf der Tischplatte Beifall klopft. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, werden noch die übrigen Tagesthemen abgehandelt. Frau Wolf macht sich noch ein paar Randnotizen zum Thema Unterrichtsvertretung, Klassenaufteilung, Formulare zur Aufnahme von Flüchtlingen und notwendige Nachträge fürs Gesundheitsamt. Ab dem Thema Lernstoffaufarbeitungsprogramm legt sie aber den Stift zur Seite und stützt ihren Kopf mit den Händen ab. Es sind nicht nur die Kopfschmerzen, die sie plagen, sondern auch eine bleierne Müdigkeit in den Knochen. Als Herr Gerhards die Sitzung nach 5 weiteren Tagespunkten für beendet erklärt ist es schon fast halb sechs. Erleichtert packt Frau Wolf ihre sieben Sachen zusammen. Endlich, denkt sie. Zwar noch kein Feierabend, denn die Anfragen vom Trudele müssen auch noch erledigt werden. Und dann gibt es da noch diese Stofftasche mit Klassenarbeiten. Aber wenigstens kann sie sich jetzt mal ins Auto setzen und nach Hause fahren. Ja, sie ist wirklich reif für die Osterferien. Oder wie sagt man so schön: Reif für die Insel. Wäre da blos nicht dieses blöde Halskratzen, dass sich seit zwei Stunden bemerkbar macht.
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Frau Kruppstahl
Auf dem Kölner Hauptbahnhof herrscht gegen die Mittagszeit eine emsige Betriebsamkeit. Vor allem die C Passage mit ihren zahlreichen Gastronomischen Angeboten füllt sich mit Reisenden. Darunter viele gerade Angekommene aber auch Durchreisende, die sich mit einem schnellen Happen für zwischendurch stärken wollen. Auch die Frau im grauen Anzug eilt mit einem prüfenden Blick durch die kulinarische Passage. Allerdings liegt ihr Augenmerk nicht auf den angebotenen Gaumenfreuden, sondern vielmehr auf dem Publikum, dass hier verkehrt. Konkret beschränkt sich ihre Suche auf eine kleine stämmige Person, weiblich, über 80. Früher auch bekannt unter dem Namen Rambo. So wurde sie in Parteikreisen wegen ihrer liberalen, engagierten aber auch brutalen Art gerne genannt. Madame Hubjée geht davon aus, dass sich an der Ausstrahlung und optischen Erscheinung ihrer ehemaligen Kollegin nicht viel geändert hat. Abgesehen natürlich von den üblichen Verschleißerscheinungen, die mit dem Alter einhergehen. Sie lässt ihren Blick schweifen. Aber vor dem vereinbarten Treffpunkt, dem Caffè- Buur kann sie niemanden ausmachen, der ihrer Vorstellung entspricht. Während sie ratlos davor stehen bleibt um nochmals auf die Uhr zu blicken, hört sie aus dem Imbiss gegenüber eine lautstarke Zurechtweisung: „Junger Mann, jetzt aber mal halblang. Und bitte Maß und Mitte bewahren. Schauen sie sich das hier mal genau an… Soll das etwa ein halbes Hähnchen sein?“ Als Madame Huebée sich zu der lautstarken Stimme umdreht, sieht sie die Rückenansicht einer kleinen stämmigen Frau mit einem maskulinen Kurzhaarschnitt. Sie steht unter einem großen Schild mit der Aufschrift ‘de Fressbud‘ und gestikuliert wild mit ihrem Gegenüber. Einem jungen Angestellten, der ratlos und bereits ziemlich eingeschüchtert ein Teller mit Käsebrot in der Hand hält. Na, also, denkt sich Madame Huebée, da ist sie ja. Unsere liebe Frau Kruppstahl, wie sie leibt und lebt. Auch sie hat eine Namensänderung vornehmen müssen. Obwohl sie an diesem verteufelten Tag, der zum Wendepunkt der politischen Landschaft wurde, längst nicht mehr im Amt war. Madame Huebjée wartet auf einen geeigneten Zeitpunkt und tippt der betreffenden Person auf die Schulter. Die Frau dreht sich um, und da ist es wieder. Das unverkennbare Lächeln der Baden-württembergischen Kultusministerin. Ein Lächeln, das Wasser in Sekundenschnelle zu Eis gefrieren lässt.
Susanne Kruppstahl, die soeben in einer etwas ungünstigen Situation von ihrer ehemalige Weggefährtin Steffi angesprochen wird, hat zum Zeitpunkt ihrer Begegnung schon einen recht anstrengenden Vormittag hinter sich gebracht. Nach einer Fahrzeit von über vier Stunden in ihrem alten liebgewonnen Audi 8 Hybrid würde sie ein kleines Mittagsschläfchen weitaus mehr reizen. Stattdessen muss sie sich hier mit zwei ehemaligen Kolleginnen treffen und darf dann auch noch Fahrdienst für sie spielen. Eigentlich hat sie mit den beiden Damen, außer ihrem ehemaligen Beruf, und das liegt jetzt mittlerweile auch schon zwei Jahrzehnte zurück, so absolut gar nichts gemeinsam. Trotzdem ringt sie sich ein Lächeln ab. Ein Lächeln, von dem sie innigst hofft, dass es Begrüßungsfreude zum Ausdruck bringt. Madame Hubjée lächelt ebenfalls und winkt sie dabei zu sich an den Rand der Imbissbude. Susanne leistet der Aufforderung Folge. Allerdings nicht ohne zuvor nochmals Klartext mit dem Imbissbudenverkäufer zu reden: „Und sie da…“, dabei dreht sie sich zu ihm um und zeigt mit erregtem Finger auf ihn; „… sie können sich gefälligst Ihr verfluchtes Möchtegernhähnchen sonst wo hinstecken.“ „Lass es gut sein“, besänftigt sie Madame Huebjée und klopft ihr beruhigend auf den Oberarm „... die hier in Köln ticken anders. Das darfst du nicht persönlich nehmen…“ Mit diesen ersten Worten der Begrüßung wechseln sie die Passagenseite und halten Ausschau nach einem netten Fensterplätzchen im Cafe-Buur.
Nachdem den beiden Damen in ihrer geräumigen Sitznische, in dem auch genug Platz für den Suite Case von Madame Hubjee ist, jeweils ein Tässchen Café mit Muuzemändelchen serviert wurde, verläuft das anschließende Pläuschchen zwischen ihnen eher schlecht als recht. Die Vergangenheit wird beflissentlich ausgespart und die Gegenwart scheint nicht wirklich interessant genug füreinander zu sein. Und so starren die beiden wortkarg aus dem Fenster auf die Passage, um nach der Dritten im Bunde, Theodora Flopper, Ausschau zu halten. Und tatsächlich steuert just in diesem Moment eine Frau ihres Jahrganges zielstrebig auf den Eingang des Cafés zu. Kurz darauf steht die hagere Seniorin auch schon an ihrem Bistrotisch und wird von Madame Huebjée aufs Herzlichste umarmt. Kein Wunder, denn die beiden so unterschiedlichen Frauen sind nach dem Ausscheiden aus der Politik zu guten Freundinnen geworden. Die zweite Begrüßung fällt dagegen etwas rustikaler aus. Mit einem ordentlichen Klapps auf die Schulter, wobei Frau Kruppstahl ein Muuzemändelchen von der Gabel fällt, begrüßt Teodora sie mit den Worten „Ha, die Frau Eisen….Pardon, Kruppstahl, auch schon hier? Wie heißt es doch so schön…?“ und dann zitiert sie mit einem schelmischen Augenzwinkern den ehemaligen Slogan ihres Wahlplakates: „Wollen wir nicht alle beschützt werden?“
Wenig später sitzt Frau Kruppstahl allein am Tisch. Die beiden Damen mussten plötzlich sehr dringend die Toilettenräume des Cafés zusammen aufsuchen. Wahrscheinlich zerreißen sie sich jetzt ihr Maul über mich, denkt die Alleingelassene. Dabei hat sie noch an der letzten Bemerkung von Frau Flopper zu knabbern. Ganz spontan kommt ihr dazu der Lieblingsspruch ihres Mannes in den Sinn: “I mag oifach des Geräusch, des d`machsch, wenn d’ei Gosch haldsch!“ Den hatte sie oft genug zu hören bekommen und am liebsten hätte sie ihn der guten Flopper auch um die Ohren gehauen. Bodenlos unverschämt war das gerade gewesen. Was musste die blöde Kuh ihren Wahlspruch aufsagen. Ja, das war vielleicht etwas unpassend, damals. Aber sie mit ihren doofen Taschentüchern hatte ja auch nicht gerade den Vogel abgeschossen. Missmutig sammelt Frau Kruppstahl ihr Muuzemändelchen, dass während der Begrüßung neben ihrem Teller gelandet war, mit der Gabel ein. Wenn sie mal ganz ehrlich ist, und dabei schluckt sie das süße Stück unzerkaut runter, dann bereitet ihr der Gedanke an Theresa Fopper schon während der gesamten Anfahrt Bauchschmerzen. Schließlich ist diese Frau als ihre direkte Nachfolgerin für sie zum Sinnbild ihres Untergangs geworden. Und verkraftet hat sie diesen ehrenlosen Rückzug aus der Politik bis heute nicht. Bei dem Gedanken daran vergeht der ehemaligen Ministerin vollständig der Appetit und sie schiebt das restliche Mandelgebäck zur Seite. Das war aber auch demütigend gewesen. Erst dieses verpatzte TV-Duell mit dem senilen Landesvater, aus dem er dann auch noch als Gewinner hervorgegangen war. Und danach all die Vorwürfe, die auf sie niedergeprasselt waren. Nicht nur ihr Corona Krisen Management an den Schulen wurde in den Dreck gezogen, auch ihr Bemühungen um Digitalisierung erwiesen sich als Perlen vor die Säue. Die Krönung der Schmähungen war dann die Auszeichnung mit dem Negativpreis, dem Big Brother Award 2021 gewesen. Und zu guter Letzt kamen dann noch diese alten Tattergreise der Leopoldina mit ihren unverschämten Forderungen ums Eck. Einen harten Lockdown mit wiederholten Schulschließungen hatten sie gefordert. Da war bei ihr dann aber Ende der Fahnenstange gewesen. Wie hatte sie damals so schön gekontert? Ja, genau, so …sie schnippt in die Finger und schmunzelt im Gedanken daran. „Mit Verlaub, aber manche Forderungen zeigen, dass die Leopoldina bei Corona Maßnahmen nicht ganz auf der Höhe der Zeit zu sein scheint.“ Boff, das hatte gesessen. Diese knallharte Aussage, die ihrem Spitznamen Rambo alle Ehre machte, hatte es dann auch bis in die Schlagzeilen der örtlichen Presse geschafft. Und darauf ist sie heute noch stolz. Im Augenwinkel sieht sie die beiden Seniorinnen, wie sie mit gegenseitig eingehakten Armen wieder von den Toiletten zurückkommen und miteinander glucken. Wie pubertierende Mädels, denkt sie sich. Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten. Die Revenge wird sie ihnen heute Abend vor dem entsprechenden Publikum auf dem Silbertablett servieren. Und danach nichts wie ab nach Hause. Möglichst auf dem schnellsten Weg. Weit weg von diesen seltsamen Rheinländern zurück ins Ländle nach Stuttgart Sillenbuch. Bei diesem Gedanken entledigt sie sich mißmutig ihrer Strickjacke. Ganz schön warm hier im Norden. Solche Temperaturen gab es vor 20 Jahren selbst in Stuttgart allerhöchstens Mitte Mai.
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Frühlingserwachen
20 Jahre zuvor, an einem Tag im Mai
Über der kleinen Doppelhaushälfte in einem Vorort von Karlsruhe hat sich soeben die späte Abendsonne mit ihren letzten Strahlen durch die hohen Bäume am Ende des Gartengrundstückes von einem wunderschönen Frühlingstag verabschiedet. Wie bereits in den vorangegangenen drei Tagen auch an diesem Abend von satten rot-orangefarbene Grüßen begleitet, um dann für die nächsten acht Stunden auf der pfälzischen Rheinseite vollständig zu verschwinden. Während dieser Zeit haben die vier Bewohner wie gewohnt ihre Vorkehrungen für den kommenden Tag bereits getroffen. So waren in den langen Schatten der Bäume soeben noch zwei jugendliche Gestalten mit Futtertüten zum Hasenstall gehuscht. Wie jeden Abend in einer heftigen Debatte verwickelt, in der es wie gewöhnlich um die Zuständigkeitsregelung der kleinen Haustiere ging. Nachdem bei Einbruch der Dunkelheit schließlich auch der Hausherr mit seinem Hund von seiner abendlichen Gassi Runde zurückgekehrt ist, die beiden Schulränzen mehr oder weniger vollständig für den nächsten Schultag in der Diele bereitstehen, die Tochter zumindest mal im Bett liegt und der Sohn bereits zu schlafen scheint, machen es sich die Eltern im Wohnzimmer gemütlich. Nach zwei Jahren Pandemie ist endlich wieder so etwas wie Normalität in den Alltag zurückgekehrt. Die Maskenpflicht ist schon längst gefallen, Schülertests gehören der Vergangenheit an und fünf Tage Quarantäne gelten nur noch für Erkrankte mit deutlichen Symptomen. Inzwischen treten Corona-Nachrichten und Gesundheitsminister immer seltener in Erscheinung und selbst das Aushängeschild der Pandemie, ein Virologe namens Christian Drosten, scheint, wie soeben die Abendsonne, gänzlich abgetaucht zu sein. Und mit ihm alle Kultusministerminister der Länder und damit auch ein eventueller Plan für ein funktionierendes Schulkonzept in der Herbstsaison. Das Volk genießt den Augenblick und macht sich um seine Gesundheit in der Zukunft wenig Sorgen. Gesamtgesellschaftlich gesehen kann man von einem großen Optimismus sprechen, zumindest in Bezug auf die Pandemie. Bis auf ein paar Schönheitsfehler, seien es die täglich über 200 Todesopfer, ein ungewisser Herbst oder die plötzlich durch einen harmlosen Durchfallerreger ausgelöste Hepatitis Erkrankungen bei Kindern scheint die Pandemie weitestgehend überstanden zu sein. Auch innerhalb der vierköpfigen Familie hat sich im Umgang mit Corona eine gewisse Lässigkeit breit gemacht. Zwar behalten alle vier Familienmitglieder das Tragen eines Mundschutzes in überfüllten geschlossenen Räumen bei, doch Nachrichten über erkrankte Kontaktpersonen werden im Gegensatz zu vorher nur noch mit einem Achselzucken und einem abwinkenden So-What? zur Kenntnis genommen. Sich darüber aufzuregen hat sich nach einer dauerroten Warn-App und zahlreichen Einschlägen in direkter Nähe als nicht lohnenswert erwiesen. Inzwischen gehören selbst die besten Schulfreunde, ausgenommen einige wenige aktuell Erkrankte, zum Kreise der Genesenen. Auch sämtliche Kollegen und Familienfreunde haben zumindest einen Durchseuchungsvorgang erfolgreich hinter sich gebracht. Verglichen mit den beiden vorangegangenen Jahren scheint einem sorgenfreien Abend vor der Glotze also nichts mehr im Wege zu stehen.
Eine Etage weiter oben herrscht inzwischen Nachtruhe. Scheinbar zumindest. Wie jeden Abend strömt kühle Abendluft durch das gekippte Fenster und die weitgeöffnete Balkontür in das Zimmer des Teenagers. Von dem frischgebackenen Dreizehnjährigen unter der Bettdecke ist in dem dunklen Zimmer nur seine Silhouette und eine kleine Lichtquelle, die auf eine betriebenes Handy schließen lässt, erkennbar. Das weiße XXL Shirt, dass zu einem Nachtgewand umfunktioniert wurde, liegt wie gewöhnlich neben dem Bett. Seitdem Präsenzunterricht nur noch mit weit geöffneten Klassenzimmerfenstern stattfinden kann, hat sich der Jugendliche zu einem peniblen Frischluftfanatiker entwickelt. Leider hat seine Mutter für seine Vorliebe, auch im Winter nur mit einer Unterhose bekleidet am offenen Fenster Hausaufgaben zu machen, wenig Verständnis gezeigt. So hatten sie sich schließlich zähneknirschend auf das Offene-Fenster-Unterhosen-Modell für die Nacht geeinigt.
Voll cringe, denkt sich der Junge und starrt auf sein Handy. He Alter! Man, was hat der denn für Probleme? Zum wiederholten Mal startet er den Beitrag auf Tic Toc zum Thema Putin und seine Atomaren Drohungen. Wie kann man nur so ausflippen? Der Junge besinnt sich auf seinen eigenen Konflikt vor einer Woche. Da hatte ein Schulfreund ihn mit einer Tauschaktion von Lego Star wars Figuren komplett verarscht. Und damit nicht genug. Nachdem dieser mit einem auffallend zufriedenen Lächeln und ausgebeulten Hosentaschen nach Hause abgezischt war, hatte er nicht nur feststellen müssen, dass er wertvolle Figuren durch minderwertige eingetauscht hatte, sondern dass dieser verfluchte 31-er zusätzlich auch noch drei seiner besten Clone Truppler aus der 501ten Legion eingesackt hatte. Er erinnert sich daran, wie er sich abends im Bett die schlimmsten Todesarten für seinen Freund Bailey ausgemalt hatte. Aber hey, wozu war man denn Ehrenmann? Am nächsten Tag hat er sich den kleinen Scheißer im Pausenhof gekrallt und die Sache von Mann zu Mann geregelt. Da konnte sich dieser Putin mal ein Beispiel nehmen. Sie sind jetzt wieder Freunde- Aber tauschen wird er mit dem kleinen Arschloch ganz sicher nur noch seine alten abgetragenen Socken. „He, Geringverdiener, also wie abgesprochen morgen in der großen Pause?“....Ah, eine Whatsapp von Hannes. Wird auch Zeit! Nachdem Hannes wochenlang völlig Ehren los einem Mädchen aus der Parallelklasse hinterhergerannt war, um sie angeblich „klarzumachen“, ist er allem Anschein nach wieder zur Vernunft gekommen. Tja, sobald Mariella ihren Mundschutz fallengelassen hat war es mit dem Verknalltsein schlagartig vorbei gewesen. Der Junge schmunzelt bei dem Gedanken an den Gesichtsausdruck seines Freundes. Die Enttäuschung über das Aussehen des Mädchens ohne Maske war ihm mehr als überdeutlich anzusehen gewesen. Morgen in der Pause geht es also wieder richtig zur Sache, krass. Endlich wieder die altbewährte Routine: Ein kleiner Twerk Wettbewerb unter Jungs angefeuert durch einen Trupp von Mädchen, dann ein paar Mutproben verbaler Art, gefolgt von einer adrenalinhaltigen Flucht quer über den Pausenhof. Zum krönenden Abschluss der gemeinsame Verzehr eines Fleischkäsebrötchens vom Imbiss. Dabei müssen sie diesmal auf jeden Fall daran denken, den freudlosen Inhalt ihrer mitgebrachten Frühstücksbox im Mülleimer zu versenken. Also, die Pausenhofsituation hat sich gegenüber dem Vorjahr erheblich verbessert. Zu Beginn von Corona hatten sie sich wie in einem Gefängnishof in Abständen und in dafür festgelegten Bereichen aufstellen müssen und jetzt war sogar das Bespucken eines Mitschülers wieder erlaubt. Das war ihm zumindest letzte Woche passiert. Und schlimmer als das Bespucken war dann die Reaktion zu Hause gewesen. „Was, du lässt dich bespucken?“, hatte seine Mutter gebrüllt.“ Und was sagen die Lehrer dazu...?“ Man, man, man, manchmal konnten Mütter aber auch so richtig weltfremd sein. Dachte sie etwa, er steht die ganze Zeit neben der Pausenaufsicht Herr Wilms, um sofort los zu petzen. Außerdem hat Herr Wilms, der inzwischen auch keinen Mundschutz mehr trägt, selbst eine feuchte Aussprache. Aber was will man auch erwarten. Die Erwachsenen haben ja eh keinen Durchblick. Erst machen sich alle in die Hose und man darf nicht mal das Haus verlassen, dann quasseln sie davon, wie wichtig ein täglicher Schulbesuch und Kontakt zu anderen ist-aber gut, sie müssen ja auch nicht jeden Tag den Blödmann Simon Heinz ertragen, und dann an Weihnachten haben alle wieder die Hose voll und wieder sitzt man nur mit Oma zusammen unterm Weihnachtsbaum. Und jetzt, wo all seine Freunde krank sind, jetzt darf er plötzlich wieder Partys feiern? Hääää…..??? Ganz toll auch, eine Geburtstagsparty mit gerade mal drei Leuten, wovon einer am nächsten Tag Corona hat. Vor kurzem hatte er von seiner Mutter wissen wollen, warum jetzt an den Schulen nicht mehr getestet wird. Seine Mutter hatte nur mit den Achseln gezuckt? „Weils billiger ist?“ hatte sie motzig geantwortet. Ja man, das war ihm auch klar. Aber er wollte die offizielle Begründung hören. „Wegen Omikron, wegen der Unzumutbarkeit für die Schüler, was weiß denn ich,“ hatte sie genervt geantwortet. Dann hatte er noch eins oben drauf gesetzt: „Ma-ma…? Warum sitzen die paar Politiker in ihren großen Konferenzräumen immer noch mit Mundschutz da, obwohl Omikron nicht gefährlich ist?“ Und damit hatte er sie schachmatt gesetzt, denn sie hatte als Antwort nur noch lauter mit dem Geschirr geklappert. Das ganze Hin und Her mit den Corona Maßnahmen erinnert ihn inzwischen stark an Klein Kai-Uwe und seine Regeln beim Munchkin Spielen. Denn Klein Kai Uwe hat nicht nur einen bescheuerten Namen, er ist dazu auch noch dumm. Um es in den Worten von Luke Skywalker auszudrücken: Wenn das Universum ein helles Zentrum hat, ist Klein Kai Uwe auf seinem Planeten am weitesten entfernt. Obwohl er dem Nachbarsjungen, der mit seinen 8 Jahren auch kein Baby mehr ist, gefühlte hundert Mal die Regeln erklärt hat, versucht der jedes Mal zu bescheißen. Eigentlich darf man im Kampf gegen Monster immer nur eine Rasse und Klasse spielen. Aber das gilt nicht für Klein Kai Uwe. Klein Kai Uwe darf alles: Elf, Zwerg, Dieb, Priester und vor allem Spielverderber sein. Beim Töten eines Monsters steigt er immer eine Stufe auf, obwohl er nur Helfer ist und das Ausspielen der Ork Karte hat letztes Mal zu einem unerträglichen Schreianfall von Klein Kai Uwe geführt. Inzwischen hatten sie die Spielregeln zu seinen Gunsten so oft geändert, dass das ganze Spiel gar keinen Sinn mehr ergibt. Und so ist es auch mit den Schutzmaßnamen an der Schule. Also, wenn die im Herbst wieder mit was kommen, vielleicht einem stündlichen Test und anschließendem Kopfstand, um danach wieder zu behaupten, Corona ist keine bekämpfenswertes Monster sondern nur ein Schnupfen, dann wird er die Karte des Unsichtbaren Trankes ausspielen. Die kann man nämlich einsetzen, wenn der Weglauf Wurf misslingt. Man entkommt automatisch. Dann können die in der Schule ihren ganzen Mist ohne ihn veranstalten. So, jetzt noch unter der Schul-App UNTIS den Unterricht für Morgen checken. Eigentlich kennt er ja die aktuellen Änderungen schon, aber weil es so schön ist, nochmal zum Genießen… Na, also. Da ist es ja. Die ersten beiden Doppelstunden Mathe bei Herrn Gudernatsch und der Nachmittag Unterricht Informatik bei Herrn Wilms entfallen. Für Englisch gibs dann noch Vertretung, womit auch der Vokabeltest, für den er eh nicht gelernt hat, flach fällt. Perfekt, dann kann er ja jetzt mit seiner verlängerten Handyzeit, die er vor seinem Vater mit dem Zugang auf UNTIS gerechtfertigt hat, noch eine Weile zocken. Genüsslich räkelt sich der Junge unter seiner Bettdecke. Yes!…, so lässt sich Schule aushalten.
Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind rein zufällig.
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